© Dirk Letsch

Um 19.45 Uhr öffnen sich die Türen des bird’s eye jazz club für das zahlreiche Publikum, das sich bereits auf der Strasse vor dem Kohlenberg Nummer 20 versammelt hat. Auf der Bühne, die im Moment noch still und schwach beleuchtet ist, stehen nur Jazz- und mittelalterliche Musikinstrumente. In dieser Atmosphäre, die noch von einer geheimnisvollen Aura umhüllt ist, was kurz darauf geschehen soll, nehmen die Gäste Platz, entspannen sich, diskutieren und machen sich mit ihrer Umgebung vertraut.

Nun betreten die Protagonisten des Abends die Bühne und eröffnen das Konzert mit den kathartischen Klängen des dreistimmigen Kanons O Virgo splendens. Eine brillante und dynamische Darbietung, die ruhig beginnt, aber allmählich an Tiefe gewinnt, wenn zu den drei Anfangsstimmen die einzelnen Instrumente hinzukommen. Zu den mittelalterlichen Klängen gesellen sich also kontrastreiche, aber wirkungsvolle Jazzklänge: Es ist der Beginn des Aufeinandertreffens zweier Welten!

Nach der Begrüssung und einer kurzen Einführung durch die Sängerin Angélique Greuter über die Grundidee, die hinter der Organisation dieser Veranstaltung steht, kehren wir in die Zeit der Ars Antiqua zurück. Das Ensemble RESONEZ erweckt nun den meditativen Konduktus für zwei Stimmen aus dem 13. Jahrhundert Sol sub nube latuit zum Leben, an den sich das heitere und fröhliche Ad celi sublimia für Blockflöte und Fidel anschliesst. Letzteres handelt sich um eine selbstgeschriebene Estampie der Sängerin und Musikerin Ann Allen, die von einer Motette aus dem Codex „Las Huelgas“ inspiriert wurde.

Das Programm des Abends umfasst nicht nur Musik, sondern auch eine Erzählung aus den Cantigas de Santa Maria: Quena virgen ben servirá a Parayso irá. Darin wird durch kleine nachahmende Einsätze der Blockflöte die Geschichte erzählt, wie Santa Maria einen Mönch dreihundert Jahre lang dem Gesang eines Vogels lauschen liess, weil er sie bat, ihm zu zeigen, welche Art von Glückseligkeit die Menschen im Paradies geniessen. Anschliessend präsentiert das Quintett Katom mit Unterstützung des Frauentrios seine Version des Vogelgesangs mit dem bezaubernden, traumhaften Lied Rossignolo (Nachtigall) der Sängerin Francesca Gaza.

Das Ensemble RESONEZ macht jetzt Platz für das Universum des Jazz, in dem die grossartigen musikalischen Talente der Katom-Künstler zur Geltung gebracht werden. Im ersten Lied, Mode 3, wird Francesca Gazas gesangliches Können durch den geschickten Einsatz des Scat-Singing hervorgehoben, entweder solo oder im Duett mit dem Trompeter James McClure. Das folgende langsame und ruhige Stück mit dem Titel Piano Piece betont dagegen die perkussive Technik und den Ideenreichtum des Schlagzeugers Jordi Pallarés, der gleichzeitig das wechselnde melodische Zusammenspiel der anderen Musiker präzis unterstützt. Das letzte Stück des ersten Sets, Mode 2, bietet Raum für zwei lange und ausdrucksstarke Trompeten- und Gitarrenmomente. Die zwei virtuosen Musiker werden in ausgezeichneter Weise von Nadav Erlichs Kontrabass unterstützt, der sich in ihren musikalischen Wirbel gekonnt hineinstrickt.

Den zweiten Teil des Konzerts eröffnet nach der Pause das Quintett Katom mit dem Song Web, einem kurzen Stück voller intensiver Duette und abwechselnder Kanonspiele zwischen Gitarre, Trompete und Gesang. Das anschliessende und mitreissende It’s all about you des Gitarristen Martín Theurillat zeigt dagegen einen eher rockigen Charakter und sorgt für die richtige Spannung und Energie, um die Aufmerksamkeit des Publikums vollkommen zu mobilisieren. Schliesslich treffen Jazz und Mittelalter wieder aufeinander, und zwar in einer ausdrucksstarken und gefühlvollen improvisatorischen Bearbeitung für Gitarre und Gesang des Marienliedes J’ay un cuer moult lent von Thibaut d’Amiens, bei der es der Sängerin Angélique Greuter in Begleitung von Martín Theurillat gelingt, die Herzen der Anwesenden zu bewegen und zu erwärmen.

Nun wird die Musik von Guillaume de Machaut evoziert. Von diesem Komponisten hat das Ensemble RESONEZ einen fröhlichen und leichten dreistimmigen Kanon auf die Worte Sans cuer m’en vois dargeboten. Es folgt das kontrastreiche und überwältigende Comment qu’a moy lonteinne. Ursprünglich ein einstimmiges Virelai, wird es hier in einer umgestalteten Fassung präsentiert, in der eine zentrale Jazzsequenz zwischen zwei Teilen mit tänzerischem und epischem Charakter eingefügt ist. Ein sehr gelungener Versuch, diese beiden weit entfernten musikalischen Welten zu verbinden.

Das folgende langsame Stück QM lenkt das Rampenlicht auf den Trompeter James McClure zurück, der mit der stets perfekten Unterstützung des Schlagzeugers die Beherrschung seines Instruments demonstriert und es durch den Einsatz zahlreicher Techniken zu extremen Klangfarben treibt.
Das Experimentieren ist noch nicht vorbei! Die nächste Darbietung bringt eine interessante Verbindung von Nadav Erlichs Originalwerk I Want, I Want mit dem Kommunionsgesang Vox in Rama zum Fest der Heiligen Unschuldigen, wobei letzterer in einen Kontext gestellt wird, der nichts mit seinem ursprünglichen Zweck zu tun hat und ihm eine neue Dimension und Tiefe verleiht.

Den Höhepunkt des Konzerts, wie auch des gesamten Festivals TEXTUR, bildet die wunderbare Aufführung und Bearbeitung des dreistimmigen Virelais Mariam matrem virginem. Eine hochemotionale und sehr intime Darbietung beider Gruppen, die vielleicht am besten die Absicht dieses Konzerts verkörpert, modernen Jazz mit dem alten Repertoire des Mittelalters zu verschmelzen.
Eine synergetische Beifallskaskade ergiesst sich über die triumphale und brillante Performance der acht Musiker:innen, denen es gelungen ist, etwas auf die Bühne des bird’s eye jazz club zu bringen, das zwar schwer zu erreichen schien, sich jedoch als etwas ungeheuer Magisches erwies.